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Spaziergänge in der jüdischen Geschichte
Spaziergänge in der jüdischen Geschichte
(c) Anton Kurt

Mobilität war eines der vielen Schlagworte der letzten Jahre. Dementsprechend nahm sie auch an Vielfalt immer weiter zu. Allerdings blieb das Wandern oder moderner Hiken immer auch Teil dieser neuen Mobilität und war oft Teil eines Angebots für gestresste Menschen, ihnen Entschleunigung anzubieten. Reiseveranstalter, Kulturinstitute und auch die Europäische Union informieren über zahlreiche, oft überraschende Wanderwege mit speziellen Themen (https://www.coe.int/de/web/cultural-routes/austria).

 

Eisenstadt-Schloss_Esterhazy_Foto_Bwag

Die AEPJ (European Association for the Preservation and Promotion of Jewish Culture and Heritage) mit Sitz in Barcelona koordiniert und verwaltet die Europäische Route des jüdischen Erbes (ERJH) des Europarates. Es gibt in über 20 Staaten Wanderwege, die jüdische Kultur zum Thema haben. Sie reichen von Irland bis Aserbaidschan. Europa ist hier ziemlich weit gefasst und so werden auch Wege in der Türkei, Georgien oder eben auch Aserbaidschan beschrieben. Interessanterweise gibt es keine Angebote für die Schweiz und die nördlichen skandinavischen Länder.

Die Routen führen den Wanderer durch die Jahrhunderte jüdischer Geschichte, in der die jeweils nationale jüdische Bevölkerung einen integralen Bestandteil der europäischen Zivilisation bildete, die über die Jahrtausende bis zum heutigen Tag einen einzigartigen und bleibenden Beitrag zu ihrer Entwicklung geleistet hat. Die europäische jüdische Geschichte ist von zwei gegensätzlichen Charakteristika geprägt. Einerseits von Migration, Verfolgung und problematischen sozialen Situationen und andererseits von Austausch, Humanismus und einer Fülle gegenseitiger Bereicherung.

Für alle jüdischen Wanderwege gibt es Apps, die auf das Handy geladen werden können und die die Stationen auf den Wegen näher beschreiben und historisch multimedial erklären. Dazu zählen archäologische Stätten, bestehende oder zerstörte Synagogen und Friedhöfe, rituelle Bäder (Mikven), jüdische Wohnbezirke, Denkmäler und Monumente. Zusätzlich sind auch mehrere Archive, Bibliotheken und Museen mit Themen zur jüdischen Geschichte zu besichtigen. Die Routen sind unterschiedlich lang und von erzählen die vielfältige jüdische Kulturgeschichte von Dorf zu Stadt, von Region zu Land. Sie nehmen sogar manchmal eine übernationale Dimension an, die auch verstehen lässt, wie eine verhältnismäßig kleine Minderheit der Weltbevölkerung mit unglaublicher Resilienz gegen die wiederkehrenden grausamen Versuche der Auslöschung angekämpft hat.

Die jüdischen Wanderwege dienen gleichzeitig der Entwicklung von Tourismus und Bildungsprogrammen für den interkulturellen Dialog. Sie sollen ein besseres Wissen und Verständnis für religiöse und alltägliche Symbole des heutigen und historischen jüdischen Lebens fördern und damit, das Verständnis um die jüdische Kultur, erweitern. Die Europäische Route des jüdischen Erbes besteht aber auch darin, dieses zu bewahren und lebendig zu erhalten.

Durch die Initiative der Burgenländischen Forschungsgesellschaft wurde 2016 auch Österreich Teil der Europa-Karte der jüdischen Kulturwege. In der von der Forschungsgesellschaft herausgegebenen Broschüre „Jüdische Kulturwege im Burgenland“ werden insgesamt zwölf Orte beschrieben, in denen es bis 1938 aktives jüdisches Leben gab. In der laufend aktualisierten Publikation, werden neben den sehr bekannten Sieben Gemeinden (Sheva Kehilot) – Eisenstadt, Mattersburg, Kobersdorf, Lackenbach, Frauenkirchen, Kittsee, Deutschkreutz – auch Gattendorf, Lockenhaus, Rechnitz, Stadtschlaining und Güssing beschrieben, die ebenfalls wichtige jüdische Gemeinden im Burgenland waren.

Ein kurzer Ausflug in die Geschichte der burgenländischen Juden zeigt, dass die ersten jüdischen Ansiedlungen auf heutigem burgenländischen Gebiet bereits im 13. Jahrhundert nachweisbar sind. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts lebten hier 8.000 jüdische Menschen. Der jüdische Bevölkerungsanteil betrug in manchen Gemeinden, wie etwa in Lackenbach, über 50 Prozent. Jedoch bereits nach dem Ende des 19. Jahrhunderts wanderten Juden, nach einer Gesetzesänderung, wieder in die großen wirtschaftlichen Zentren Budapest, Wien und Graz ab. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wurde das Gebiet des heutigen Bundeslandes an Österreich angegliedert. Die Volkszählung des Jahres 1934, die letzte vor der Vertreibung der burgenländischen Juden und Jüdinnen in Österreich, zählte im Burgenland 3.632 Personen jüdischen Glaubens. In ganz Österreich wurden im Jahr 1934 191.481 Juden und Jüdinnen gezählt.

Die Burgenländische Forschungsgesellschaft wurde 1987 gegründet und wirkt als regionale Forschungs- und Bildungseinrichtung. Ihre wissenschaftlichen Ergebnisse werden in Form von Publikationen und Studien veröffentlicht und durch Symposien und Tagungen, sowie Webseiten der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Die jüdischen Kulturwege des Burgenlands sind auch online unter www.forschungsgesellschaft.at/routes abrufbar und können während eines Rundgangs übers Handy Beschreibungen zu den jeweiligen Standorten geben. So werden die Informationen durch praktische Hinweise, wie etwa zum Auffinden der Schlüssel für versperrte Friedhöfe oder zu Kontakten von lokalen Gendenkinitiativen, ergänzt.

Die Internetversion der Rundgänge in den zwölf Orten, die vom Norden bis in den Süden des Burgenlandes reichen, beinhaltet auch Links zu Interviews, die man online sehen und hören kann. Spezielle Informationen über die Entstehung und das Schicksal der Bewohner, erzählen die Geschichte der Gemeinden. Mittels Wegbeschreibungen wird der Wanderer zu verschiedenen Örtlichkeiten geführt - beispielsweise zum Jüdischen Viertel, zu Resten von Synagogen und zu Friedhöfen oder zu noch teilweise erhaltenen Häusern, wo sich früher jüdische Geschäfte befanden oder wo eine jüdische Familie wohnte. An vielen Standorten werden online Rekonstruktionen von Synagogen gezeigt, die von Studenten der TU Wien gerendert wurden.

So beginnt zum Beispiel der Rundgang durch die Geschichte des jüdischen Eisenstadt auf der Hauptstraße Nummer 27. In diesem Haus befand sich die Kanzlei des Rechtsanwalts Dr. Monath. Sein Sohn erzählt in einem Interview auf dem Videokanal „Vertrieben“ über das Eisenstadt der 1930er Jahre und seine Flucht 1936 nach Argentinien. Ein paar Schritte weiter, im Haus Nummer 24 war die Wohnung und das Juweliergeschäft von Josef Klein der 1939 freiwillig aus dem Leben schied. Sein Enkel, Oscar Klein, war ein bekannter österreichischer Jazzmusiker. In der Fanny-Elßler-Gasse Nummer 4-6 befand sich das Kleiderhaus von Oskar Schiller, der als Einziger seiner Familie den Holocaust überlebte. Er kehrte nach 1945 wieder ins Burgenland zurück. Auf dem Weg Richtung Schloss kommt der Wanderer in das erste jüdische Viertel Eisenstadts, wo bereits im 13. Jahrhundert Juden lebten. Neben den Stallungen des Schloss Esterhazy beginnt das dann im 17. Jahrhundert angelegte jüdische Viertel. Einige Schritte weiter gelangt man zum Wohnhaus der Familie Gabriel und zum Gebäude des Landesmuseums Burgenland, das zuletzt die Familie Wolf bewohnte. In der Dauerausstellung des Landesmuseums ist der Sándor-Wolf-Gedenkraum zu besichtigen, der auch als Wertheimer Synagoge bekannt ist. Samson Wertheimer (1658- 1724) ließ das Haus erbauen, das 1875 von der Familie Wolf gekauft wurde, die ihre damals sehr bekannte Weinhandlung in diesem Haus betrieben. Nach der Arisierung und Flucht der Familie Wolf, fiel das Haus 1945 an einen burgenländischen Landesverband. Das Gebäude und die Synagoge wurden dann 1979 renoviert und so ist diese bemerkenswerte kleine Privat-Synagoge heute, das in Österreich älteste, in seiner ursprünglichen Funktion erhaltene, jüdische Bethaus. Seit 18. Juni 2020 ist das Wertheimerhaus auch der offizielle Amtssitz des burgenländischen Landesrabbiners Schlomo Hofmeister.

Auch hier sind erklärende Interviews der Nachkommen auf dem Videokanal „Vertrieben“ zu sehen. Außerdem ist noch die Schabbat-Kette im Original erhalten, die zur Absperrung der Unterbergstraße während des Schabbat diente.

Weiter führt der Weg in die Unterbergstraße Nummer 15, wo der Levitenkrug im Torbogen des Hauseingangs von der jüdischen Geschichte dieses Viertels erhalten blieb. Unweit dieses Hauses befand sich eine Synagoge, die vermutlich vor der Pogromnacht im November 1938 zerstört wurde und nach 1945 abgerissen wurde. Heute steht an dieser Adresse ein Bürogebäude. Eine Gedenktafel erinnert an die Geschichte dieses Standorts. Am Ende der Unterbergstraße liegt der ehemalige jüdische Friedhof. Mit diesem Ort endet der Rundgang.

Kooperationspartner dieser einmaligen Initiative sind neben der Burgenländischen Forschungsgesellschaft, auch die Volkshochschulen, das Landesmuseum Burgenland und das Österreichische Jüdische Museum in Eisenstadt. Mit viel Aufwand und Nachforschungen wurde hier ein Zeitdokument geschaffen, das für kommende Generationen die Vielfältigkeit einer zerstörten Kultur zeigt.

Weiterführende Links sind auch:

https://www.worldjewishtravel.org/dynamic-page/?id=3169

 

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