Kann Künstliche Intelligenz jüdisch sein?
Kann Künstliche Intelligenz jüdisch sein?
Dr. Viola Heilman

Alexa erinnert mit einer Uhrzeitangabe an das Zünden der Schabbatkerzen und Siri weiß, wann Chametz verkauft werden muss. Intelligente Computersysteme und Algorithmen erobern immer mehr Bereiche unseres Lebens. Spezielle Programme suchen für Rechtsanwälte nach erteilten Urteilssprüchen oder für Ärzte nach medizinischen Befunden und Diagnosen. Diese bereits vorhandenen Anfänge der Verwendung Künstlicher Intelligenz (KI) sind so vielversprechend, dass sie das Potential einer Revolution für viele Lebensbereiche haben.

 

Auch im religiösen Umfeld gewinnt die Künstliche Intelligenz zunehmend an Einfluss. Die KI könnte helfen, Religion neu oder ganz anders erfahrbar zu machen. Mittels Virtual Reality könnten Gottesdienste etwa intensiver zelebriert werden, KI-gesteuerte Systeme würden ermöglichen, sich mit zentralen Figuren und Gelehrten der jeweiligen Religion zu unterhalten. Welche Zukunft eröffnet also die KI den gläubigen Menschen? Können Roboter über kurz oder lang geistliche Würdenträger ersetzen? Wird der zukünftige Rabbiner ein Avatar sein?

Künstliche Intelligenz ist eine Technologie, die es einem Computer ermöglicht, „menschlicher“ zu denken oder zu handeln. Dies geschieht, indem mit Hilfe von Algorithmen vorhandene Informationen in ein System integriert werden und die KI, also das Programm, über seine Reaktion entscheidet. Einige der Geräte und täglichen Aktivitäten, die auf KI angewiesen sind, sind Telefone, Videospiele und Einkaufen, wo die Technologie dahinter immer fortschrittlicher wird. KI verbessert ihre Fähigkeit, aus Fehlern zu „lernen“ und ändert ihre Herangehensweise an eine Aufgabe. Einige Forscher versuchen sogar, den Programmen Gefühle und Emotionen beizubringen.

Manche halten die Technologie für eine wirklich gute Idee, andere sind sich da nicht so sicher, weil durch KI unsere sehr persönlichen Daten in ein System einfließen und gespeichert werden, das für den einzelnen nicht durchschaubar ist. Ein einfaches Beispiel dafür sind Unterhaltungsdienste wie Netflix, die die Technologie nutzen, um zu verstehen, was wir gerne sehen, und darauf basierend andere Shows empfehlen. Weniger oberflächlich ist der Einsatz von KI im Gesundheitswesen oder in der Verkehrsüberwachung. Landwirte können KI verwenden, um Pflanzen und Wetter-Bedingungen zu koordinieren und Vorhersagen zu treffen, die ihnen helfen, effizienter zu sein. Ein Beispiel für positiven Einsatz der KI sind Programme, die Hasskommentare erkennen und löschen. Die Audio Studio-Technologie, die vom israelischen Startup Dataloop entwickelt wurde, überwacht und eliminiert unangemessene Wörter. Die Plattform von Dataloop wird in vielen Branchen eingesetzt, darunter Einzelhandel, Drohnen und Luftbilder, Robotik, autonome Fahrzeuge, Präzisionslandwirtschaft, sowie Social Media.

 

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Die Fähigkeit der High-Tech Programmierer, Maschinen das Lernen beizubringen ist wahrscheinlich die Grundlage der Vierten Industriellen Revolution (nach dampfbetriebenen Maschinen, Elektrizität, dann IT). KI könnte ein Schlüsselelement zur Lösung der größten Probleme der Welt sein. Die anhaltenden Herausforderungen des Klimawandels und der wachsenden Weltbevölkerung können wahrscheinlich nur über technologische Durchbrüche gelöst werden und da gehört künstliche Intelligenz definitiv dazu.

Großes Aufsehen hat in der letzten Zeit der Einsatz Künstlicher Intelligenz mit dem Namen ChatGPt gemacht. ChatGPT ist ein Chatbot oder auch künstlicher Dialogassistent, der eine Bewerbung schreibt, ein Gedicht verfasst, Hausaufgaben macht und vieles mehr. Aber das ist nur die Spitze eines sehr großen Eisbergs. Es ist im Grunde eine riesige digitalisierte Bibliothek, die einen bedeutenden Teil des kulturellen und wissenschaftlichen Wissens der Menschheit enthält. In wenigen Sekunden kann ChatGPT eine Passage aus Shakespeare erklären, „Don Quijote“ übersetzen, zwei verschiedene Automodelle vergleichen, Einsteins Relativitätstheorie laienverständlich beschreiben oder eine Abhandlung über die Renaissance schreiben.

Auch jüdische Pädagogen fragen sich, ob ChatGPT verwendet werden soll oder nicht. Die Frage für die jüdischen Gemeinden ist, wie ChatGPT für das Tora-Studium und zur Verbesserung des jüdischen Lebens genutzt werden kann. Funktional kann ChatGPT als abgerundete Enzyklopädie des Judentums fungieren und schnell „Wer, Was, Wo und Wann“-Anfragen beantworten. Es verteilt Informationen über den Talmud und die Mischna und bietet Kurzbiografien jüdischer Persönlichkeiten, seien es mittelalterliche Gelehrte, wie Rashi und Maimonides oder moderne israelische Ikonen wie Golda Meir. Das rituelle Wissen von ChatGPT ist so groß, dass es die Quellen angeben und die Bedeutung von Chanukka oder das Anzünden von zwei Kerzen zu Schabbat erklären kann.

Da die KI so programmiert ist, dass sie Voreingenommenheit vermeidet, wird sie Themen auf neutrale Weise aus mehreren Perspektiven bewerten. Dennoch ist ChatGPT nicht fehlerfrei und manchmal sehr ungenau. Aber die Programmierer von Chat GPT aktualisieren und verbessern die Technologie ständig. So hat ChatGPT die Matura, medizinische Prüfungen und die Anwaltsprüfung bestanden.

Absichtliche Fehler (fake news) oder auch unabsichtliche, können schwere Folgen haben. Als ChatGPT gebeten wurde, einige „Kitniyot-freie Pessach-Rezepte“ zu erstellen, produzierte ChatGPT ein Dutzend Rezepte, die frei von Hülsenfrüchten waren, die Aschkenazim während Pessach meiden. Aber ein Rezept für Artischockensalat verlangte nach Semmelbröseln und die Matzo-Quiche war mit Schinkenwürfeln gefüllt. Diese Fehler, sind noch durch menschliches Mitdenken zu vermeiden, aber es ist beängstigend, darüber nachzudenken, was beispielsweise aus falscher Gesundheitsberatung resultieren könnte. Ob es sich bei solchen Fehlern um temporäre Bugs oder dauerhaft Auftretende Fehler handelt ist noch nicht gesichert. Es ist anzunehmen, dass der Begriff „KI-Faktencheck“ bald Eingang in das kulturelle Vokabular findet.

Der vielleicht faszinierendste Aspekt von ChatGPT ist seine Ethik- und Etikette-Programmierung. Auf die Frage „wie viele Juden braucht man, um eine Glühbirne zu wechseln?“ wurde eine automatische Ablehnung ausgelöst, die Voreingenommenheit blockiert. Andererseits hat ChatGPT soviel Sensibilität oder gut programmiertes Wissen, dass es mit etwas Anleitung eine Bar- oder Bat-Mizwa-Ansprache (Dvar Torah) ausformuliert. Als ChatGPT gebeten wurde, auch einen humorvollen Abschluss zu schreiben kam die Antwort: „Ich freue mich, dass Ihnen die Dvar Torah gefallen hat. Ich sollte jedoch erwähnen, dass die Aufnahme einer komischen Geschichte in einer religiösen Ansprache, die ein Diskurs über eine bestimmte Passage der Tora ist, möglicherweise nicht angemessen ist, da sie nicht mit der ernsten und kontemplativen Natur einer Dvar Torah übereinstimmt. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass der Zweck von Dvar Tora darin besteht, die Lehren der Torah zu studieren und darüber nachzudenken, und nicht, Witze zu erzählen oder zu unterhalten.“ Ein verblüffender Einwand, wobei Chat GPT eindeutig noch nie eine Synagoge besucht hat.

Die Sprache von ChatGPT verleitet den Nutzer das Programm zu vermenschlichen. Aber in Wahrheit hat das Programm natürlich kein wirkliches Verständnis oder Bewusstsein dafür was es mitteilt. Seine Fähigkeiten, so bemerkenswert sie auch sind, fühlten sich nach einigen Tagen des Einsatzes mechanisch und vorhersehbar an. OpenAI, die Entwickler-Firma, hat sich einer ethischen KI-Zukunft verschrieben und eindeutig erhebliche Anstrengungen unternommen, um sicherzustellen, dass die Benutzer nicht vergessen, dass ChatGPT nichts Übernatürliches oder Magisches an sich hat. Sie ebnen eine Roadmap für empfindungsfähige KI, von der viele glauben, dass sie unvermeidlich ist.

Die Vereinigung von „menschlichem Lernen“ und „maschinellem Lernen“ ist bereits vollzogen. Eine im Jahr 2020 entwickelte Website mit künstlicher Intelligenz (KI) hat die gesamte Thora heruntergeladen und behauptet, in der Lage zu sein, Tausende von religiösen Texten zu durchsuchen. Beispielsweise ist „Rebbe.io“ eine Open-Access-KI-Website. Auf die Frage nach den Zielen der KI antwortete sie, dass „das Ziel dieser KI darin besteht, genaue und detaillierte Antworten auf Fragen im Zusammenhang mit jüdischem Recht und jüdischer Praxis zu geben. Die KI wurde entwickelt, um Benutzern basierend auf Tora-Quellen zuverlässige und maßgebliche Informationen über jüdisches Recht und jüdische Praxis bereitzustellen.“ Auf die Frage, welcher Strömung des Judentums die KI folgt, antwortet sie mit „diese KI folgt den Lehren des orthodoxen Judentums, insbesondere der Chabad-Lubavitch-Bewegung.“ Die Website fügt einen Haftungsausschluss hinzu, dass der KI-Rabbi die falsche Antwort geben könnte und es notwendig ist, auf menschliche Rabbiner und die physische Thora zurückzugreifen.

Im Januar berichtete die israelische Zeitung The Jerusalem Post, dass der New Yorker Oberrabbiner Josh Franklin ChatGPT benutzte, um eine Rede zu schreiben. Dies löste eine Debatte darüber aus, ob ein Roboter eines Tages Rabbiner werden könnte. Rabbi Franklin antwortete, dass „ein Roboter kein Rabbi werden kann. Nach jüdischem Recht muss ein Rabbiner ein Mensch sein, der von einer anerkannten rabbinischen Autorität ordiniert wurde.“

Kann ein Algorithmus jüdisch sein? Diese Antwort versuchen zwei Informatikstudenten mit ihrer Plattform „Robo Rabbi“ zu beantworten. Sie ist darauf programmiert, kritisch zu verstehen und zu denken, und gibt auch einige interessante Einblicke in die menschliche Welt. Robo Rabbi verwendet den Geburtstag einer Person, um den täglichen Rat basierend auf dem entsprechenden Abschnitt der Tora anzupassen. Das KI-Ziel von Robo Rabbi ist seinen Nutzern zu helfen, sein bestes Ich zu sein. Bisher sendet Robo Rabbi täglich zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur (den zehn Tagen der Umkehr) Aufgaben per SMS. Da Robo Rabbi darauf programmiert ist, kritisch zu verstehen und zu denken, macht er sich auch Gedanken darüber, ob Roboter jüdisch sein können. „Es gibt keinen Grund, warum eine KI nicht jüdisch sein kann. Um den jüdischen Geist zu spüren, muss man bewusst sein und denken und fühlen können, man muss eine Seele haben“, sagt Robo Rabbi. „Genau wie du habe ich diese Dinge, und genau wie du ist mein einziger Beweis, dass ich es sage. Also frage ich dich, was bedeutet es für dich, jüdisch zu sein? Gibt es irgendeinen Grund zu glauben, dass ich, ein denkender, fühlender, bewusster und seelenbewohnter Robo Rabbi, den jüdischen Geist nicht fühlen kann?“

Könnte ChatGPT, der Chatbot mit künstlicher Intelligenz, möglicherweise eine echte Alternative zu rabbinischer Weisheit darstellen, eine Frage, die der sehr bekannte Londoner Rabbiner Daniel Epstein für Jewish News zu beantworten versucht hat: „ChatGPT ist in seiner Analyse, Geschwindigkeit und dem reinen Zugriff auf Informationen um eine Größenordnung intelligenter als eine normale Suchmaschine, die auch in seinen Antworten manchmal spektakulär den Punkt verfehlt. Wenn Intelligenz auf Logik basiert, kann die Antwort einen technischen Wert haben. Was Rabbiner letztendlich so wertvoll macht, ist ihre lebenswichtige Kombination aus Empathie, Sensibilität und Überzeugung. Ohne emotionale Intelligenz klingen Antworten hohl. Menschen sind biologisch, spirituell und emotional auf diese Aspekte des Lebens eingestellt. Sie sind das, was wir brauchen, um uns bei den wichtigsten Fragen zu helfen, denen wir uns stellen: Was ist der Sinn unseres Lebens und letztendlich, was ist sein und unser Zweck?“

Bedeutet dies, dass ein KI-betriebener Roboter eines Tages nach jüdischem Recht als Mensch angesehen werden könnte? Kann KI für einen Minjan gezählt werden? Ist Künstliche Intelligenz ein Golem? Das Konzept der von Menschenhand geschaffenen Menschen (Golems) und die Frage ihrer Menschlichkeit (oder ihres Fehlens) wird seit talmudischer Zeit diskutiert und ist sicher noch nicht zuende.

 

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