Eckig oder rund?
Eckig oder rund?
Dr. Viola Heilman

Wie kam es, dass die quadratische Matza über die alte Tradition der runden Form triumphierte? Naheliegend erscheint, dass es einfacher war, sie zu verpacken und vielleicht auch, weil es leichter ist ein Stück abzubrechen. Es gibt eine Theorie die sagt, als die Israeliten Ägypten verließen und ihr Teig nicht genug Zeit zum Aufgehen hatte, sie eigentlich dabei waren, Fladenbrot zu backen. Pita-Brot war rund, ebenso wie die traditionellen Schmurah-Matzot.

 

Die formverändernde Geschichte beginnt im Jahr 1838, als Isaak Singer, ein geschäftstüchtiger Mann aus Elsass-Lothringen die erste Maschine zum Backen von Matzot erfand. Er leistete damit einen entscheidenden Beitrag für die jüdischen Gemeinden, die von nun an Matzot industriell herstellen konnten. Die Matzo-Maschine von Rabbi Singer führte anfänglich nicht alle Schritte des Matzo-Herstellungsprozesses durch, aber sie glättete den Teig, bevor er in den Ofen geschoben wurde. Dieser Vorgang machte es viel einfacher, den gesamten Backprozess innerhalb des vorgeschriebenen Zeitrahmens von 18 Minuten abzuschließen. Allerdings waren die ersten Matzot aus Singers Machine noch rund. Rabbiner aus Deutschland und Frankreich erkannten, dass die Maschine preisgünstigere Matzot produzierte, die sich die bedürftigen Mitglieder ihrer Gemeinden leisten konnten. Traditionelle handgemachte Matzot waren damals sehr teuer.

Mit der Verbreitung der Maschine entbrannte eine große Kontroverse darüber, ob die Matzo-Maschine „koscher“ sei. Der Diskussion begann, als die Maschine nach Osten in die österreichisch-ungarische Monarchie und von dort nach Polen und Litauen exportiert wurde. Einer der ersten, der seine Opposition zum Ausdruck brachte, war Rabbi Shlomo Kluger, bekannt als der „Marshak“. Klugers Urteil verbreitete sich wie ein Lauffeuer und einige chassidische Rabbiner waren sogar noch unnachgiebiger in ihrem Widerstand gegen die Maschine und bezeichneten die so produzierten Matzot als „Chamez“.

Die Argumente der lautstärksten Gegner basierten auf jüdischem Recht – sei es die Schwierigkeit, die Maschine zu reinigen, oder die Tatsache, dass die Integrität der Mitzwah für die Zubereitung der Matzot untergraben werden könnte. Die Maschine gefährdete auch die Lebensgrundlage armer Menschen, die in den Matzot-Bäckereien arbeiteten, in denen die handgemachten Matzot hergestellt wurden. Die Rabbiner sahen in der Matzo-Maschine eine weitere Wendung hin zur Aufklärungsbewegung, die Innovationen als Antworten auf alltägliche Fragen geben wollte.

Die Maschine hatte aber auch einige Unterstützer, darunter ein zwei einflussreiche Rabbiner aus Krakau und Lemberg. Langsam gewann Singers Maschine immer mehr an Zustimmung verschiedener Rabbiner und verbreitete sich dann schnell in den Vereinigten Staaten, Deutschland, Frankreich, England und Ungarn.

Was bewirkte also den Siegeszug viereckiger Matzot, nach Jahrtausenden runder Matzot? Ein wichtiger Grund war sicher die Rentabilität. Bei der runden Form fällt eine riesige Menge an verschwendetem Teig an, der in der 18-minütigen Herstellungszeit nicht wiederverwendet werden kann. Runde Matzot, die von Hand hergestellt werden, werden im Allgemeinen aus Weizenmehl hergestellt, dessen Korn ab dem Zeitpunkt der Ernte religiös überwacht wird. Maschinell hergestellte quadratische Matzot, werden aus fertigem Mehl gebacken, das nur ab dem Zeitpunkt des Korn-Mahlens überwacht wird.

matzah

Die Revolution der viereckigen Matzot begann aber erst wirklich im Jahr 1886. Damals wanderte Dov Behr Manischewitz aus Memel (im heutigen Litauen) in die Vereinigten Staaten aus. Er wurde von der jüdischen Gemeinde von Cincinnati beauftragt, ein Schochet zu sein (eine Person, die beglaubigt ist, koschere Tiere zu schlachten). Eigentlich hieß der Rabbi, Dov Behr Abramson, aber er hatte den Pass eines verstorbenen Mannes namens Manischewitz gekauft, um in die Vereinigten Staaten einzureisen. Der unternehmungslustige Rabbiner begann in seinem Keller mit dem Backen von Matzot, die an die Gemeinde geliefert wurden. Er eröffnete schließlich eine Bäckerei und begann, in technologische Erfindungen zu investieren. Eine davon war eine Maschine zum Kneten des Teigs und eine andere ein Gasherd, der die gleichmäßige Verteilung der Hitze kontrollierte. Insgesamt meldete Manischewitz nicht weniger als 50 Patente an, die mit dem Herstellungsverfahren von Backwaren zu tun hatten – darunter auch eine Maschine, die Matzot abzählt und verpackt. Der nun vollständig automatisierte Vorgang beendete fast vollständig die manuelle Matzot-Herstellung. Die Maschinen von Manischewitz kneteten den Teig, rollten und dehnten ihn und schließlich wurden die Teigplatten perforiert und viereckig geschnitten. Die winzigen Löcher in den Matzot lassen Dampf durch den Teig strömen und verhindern, dass er aufgeht und sich in Sauerteigbrot wie Pita verwandelt. Die Löcher spielen auch eine entscheidende Rolle beim Koscherprozess. Die rabbinischen Inspektoren, die sicherstellen, dass die Matza koscher ist, wenn sie vom Fließband kommt, brechen sie entlang dieser Löcher und dann gegen die Faser, um sicherzustellen, dass sie durchgegart ist, damit sie nicht mehr durchsäuert.

Manischewitz verwendete auch einen Ventilator, um die Räumlichkeiten kühl zu halten, und führte einen gasbefeuerten Matzot-Backofen ein, der eine bessere Wärmeverteilung ermöglichte. Ein Förderband ermöglichte das gesamte System zu automatisieren. Der Teig bewegte sich durch die Ofenkammern und kam gleichmäßig gebacken heraus. 1920 führte sein Sohn Jacob Uriah eine Maschine ein, die täglich 1,25 Millionen Matzen produzieren konnte.

Manischewitz gab den größten Teil seines Marketingbudgets für Anzeigen in englischsprachigen jüdischen Zeitungen aus. Er nannte seine Spitzentechnologie einen „Tempel der Kaschrut“. Aber die Botschaft ging viel tiefer. Er integrierte durch die englische Sprache sich, aber auch die jüdischen Gemeinden in die amerikanische Gesellschaft, ohne dabei die Tradition zu verlieren. Manischewitz lud die angesehensten religiösen Führer seiner Generation ein, seine Bäckerei zu besuchen. Er sorgte dafür, dass die Besuche fotografiert und veröffentlicht wurden, was ihm zusätzliche Glaubwürdigkeit, die Kaschrut zu wahren, einbrachte. Manischewitz gründete auch das „Manischewitz Board of Rabbinical Supervision“, dessen Mitglieder die Produkte des Unternehmens mit ihrem Koscher-Gütesiegel versahen. Er führte seine PR-Kampagne über die Grenzen der Vereinigten Staaten hinaus bis nach Israel, wo er gemeinnützige Organisationen finanzierte und die Manischewitz Yeshiva in Jerusalem gründete.

Matzot Hersteller mit internationalem Namen sind neben Manischewitz auch die amerikanische Firma Streit’s und Yehuda aus Israel. Streit’s bezeichnete sich selbst als Lamborghini unter den Matzot und wird heute nurmehr unter Lizenz hergestellt. Die Fabrik schloss 2015 nach fast 100-jährigem Bestehen ihren Sitz auf Manhattans Lower East Side. Die Yehuda Matzos-Fabrik, die der orthodoxen Familie Ludmir aus Zefat in siebter Generation in Israel gehört, bäckt seit 1921 Matzot und zog 1949 nach Jerusalem. Die Yehuda Matzos Co. ist ein führender Hersteller von Matzoprodukten und Matzomehl in Israel. Die Produkte werden in Israel und in verschiedenen Ländern auf der ganzen Welt vermarktet.

Barack Obama brachte Matzot ins Weiße Haus. Er war der erste US-Präsident, der Seder-Abende im Weißen Haus abhielt – es wurden Haggadot gelesen und Matzot gegessen. Er veranstaltete gemeinsam mit seiner Frau Michelle Obama während seiner Amtszeit als Präsident acht Seder.

Auch die Muppets mögen Matzot. Der außergewöhnliche Muppet Grover freute sich riesig darauf, Pessach bei seinem ersten Seder in der Shalom-Sesam-Episode „It’s Pessach, Grover“ zu feiern. „Ich kann es kaum erwarten, die versteckte Matza zu finden!“ sagt er, begeistert von dem Teil des Seders, wenn Kinder nach einem versteckten Stück Matza, dem Afikoman, suchen, um es gegen ein kleines Geschenk einzutauschen.

 

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